Von Horaz über Fernando Pessoa, Hubert von Goisern, Pink Floyd bis zu Pascal Mercier

„Carpe diem!“ – „Pflücke den Tag!“ ist wohl eines der bekanntesten Zitate aus den Werken des römischen Lyrikers Horaz (65-8 v. Chr.). Der brillante Dichter räsoniert in mehreren seiner Oden über Vergangenheit und Zukunft, über Zeit und Endlichkeit. Wesentlich beeinflusst ist er u. a. von der hellenistischen Philosophie des Epikureismus: Vertraue nicht zu sehr auf das Morgen, denk nicht an deine letzte Stunde, genieße das Heute!

In einer Lateinstunde der 8. Klasse nahmen wir das Gedicht, das uns diese Gedanken vermittelt (carmen 1, 11) zum Anlass, um dieses Thema in der europäischen Literatur- und Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts weiter zu verfolgen. Der große portugiesische Dichter Fernando Pessoa (1888-1935) nimmt wörtlich auf, was bei Horaz ausgedrückt wird, und treibt es geradezu auf die Spitze, formuliert quasi eine Gleichung:

„Dieser Tag und diese

Stunde und dieser Augenblick, sie sind

das, was wir sind, sind alles.

So pflücke den Tag,

denn er ist du.“

Völlig anders, gleichsam ohnmächtig vor der beständig und unaufhaltsam vergehenden Zeit fühlt sich Hubert von Goisern in seinem mit einer starken Metapher beginnenden Song „Heast as nit wia die Zeit vergeht“ (entstanden 1995). Wir sprachen nicht nur über den Text, sondern analysierten auch das am Hallstätter See entstandene Video dazu.

Zurück in die siebziger Jahre führte uns die Nummer „Time“ auf der LP „Dark side of the moon“ von Pink Floyd (1973). Hier wird die Subjektivität von Zeitempfindung thematisiert: Junge Leute versuchen sich die als langsam vergehend empfundene Zeit irgendwie zu vertreiben, warten darauf, dass ihnen jemand den Weg weist – und plötzlich merken sie, dass sie einen entscheidenden Moment verpasst haben; mit den Jahren kommt den Menschen vor, dass die Zeit immer schneller vergeht und man mit vielen Plänen kaum mehr zu Rande kommt …

Der Schriftsteller Pascal Mercier spricht in seinem Roman „Das Gewicht der Worte“ (2014) von den „poetischen Momenten“, die wir Menschen jeweils in völlig unterschiedlichen Situationen erfahren, in denen wir individuell Zeit besonders tiefgehend, besonders reichhaltig empfinden.

Latein bietet bei vielen Gelegenheiten den Ausgangspunkt für eine Tour d’horizon durch die europäische Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte bis in unsere Zeit. Es werden Themen angesprochen, die junge Menschen herausfordern, sich Gedanken zu machen, eine Diskussion zu eröffnen oder sie vielleicht veranlassen, ganz einfach in sich hineinzuhören und etwas nachzuempfinden.

Wolfgang Leberbauer

Carpe diem – römische Wandmalerei (https://www.kunst-fuer-alle.de/deutsch/kunst/kuenstler/kunstdruck/1--jahrhundert/16183/1/139757/flora---roem--wandmalerei-1-jh-/index.htm)

Bronzeplastik: Fernando Pessoa vor dem Café A Brasileira in Lissabon (https://www.informagiovani-italia.com/fernando_pessoa_statua.jpg)

Hubert von Goisern (https://austriancharts.at/showitem)

Pink Floyd, Time ( http://www.pxleyes.com/images/contests/pink-floyd-tribute/fullsize/TIME---Floyd-4c9bf7e5c3a01_hires.jpg)

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte (https://media2.hugendubel.de/shop/coverscans/382/38295644_9783446266674_xl.jpg)