Cicero und Stefan Sagmeister

Im Lateinunterricht der 8. Klasse beschäftigen wir uns u. a. mit dem Themenbereich „Fortwirken und Rezeption der Antike“. Ein Aspekt daraus war auch Teil der Aufgabenstellung bei der ersten Latein-Schularbeit der Maturantinnen und Maturanten.

In der Ausgabe Nr. 8 der Zeitung „Addendum“ (Oktober 2019) interviewt Chefredakteur Michael Fleischhacker den in New York arbeitenden und aus Bregenz stammenden Stefan Sagmeister, einen der erfolgreichsten Grafik-Designer der Welt, über seine Gedanken zum Begriff „Heimat“. Sagmeister verbringt bei weitem die meiste Zeit seines Lebens in Amerika, bezeichnet aber voller Überzeugung Österreich als seine Heimat. „Ich werde mich bis ans Lebensende als Österreicher fühlen“, glaubt er. Und: „Dinge, die wir kennen, empfinden wir als schön: … die Berge, das Meer, den Fluss, was auch immer … Sogar die Fabrik.“ Vor nicht allzu langer Zeit hätte ein Künstler oder Intellektueller, besonders, wenn er aus Österreich stammt, das wohl kaum in dieser Weise gesagt. Der Begriff „Heimat“ war in unseren Breiten geradezu ein word not to say, so missbraucht war er von der NS-Blut-und-Boden-Ideologie worden.

Ähnlich wie Sagmeister war auch der römische Anwalt, Redner, Politiker, Schriftsteller und Philosoph Cicero ein Weltbürger, der u. a. Griechenland und Asien kennengelernt hatte. Sein Kosmopolitismus stand ganz in der Tradition der griechischen Philosophie, eines Sokrates, eines Diogenes, der Stoiker oder auch des römischen Dichters Terenz. Die „caritas generis humani“, die Liebe zum Menschengeschlecht, ist für ihn ein besonderes Kennzeichen von hoher ethischer Gesinnung.

Am Beginn des zweiten Buchs von „De legibus“, seines Werks über die Gesetze, befindet sich Marcus Tullius Cicero mit seinem Bruder Quintus und seinem weltgewandten Freund, dem Verleger Atticus, auf einem Spaziergang in der Gegend seiner Geburtsstadt Arpinum. Von ferne sieht er sein Geburtshaus und erzählt Atticus über seine Familie, über die Geschichte dieses Hauses, über die Aktivitäten seines Großvaters und seines Vaters und hält schließlich fest: „Deshalb liegt irgendetwas in meinem inneren Empfinden verborgen, wodurch mir wohl dieser Ort besondere Freude bereitet …“ Atticus pflichtet Cicero bei und meint, er würde das in seiner Vaterstadt Athen in ähnlicher Weise spüren.

Schon oft haben wir beim Lesen antiker Literatur festgestellt, wie sehr Themen unserer Zeit in vergleichbarer Weise bereits in früheren Epochen der europäischen Kulturgeschichte präsent waren und diskutiert wurden. Es ist reizvoll, diese Linien zu entdecken, zu verfolgen und zu interpretieren.

Wolfgang Leberbauer

Ciceros Heimatstadt Arpino heute (twistedsifter.com)

Marcus Tullius Cicero (106-43): Anwalt, Politiker, Redner, Philosoph (Quelle: De Agostini/Getty Images)

Richard Wilson (1714-1782): Cicero mit seinem Freund Atticus und seinem Bruder Quintus in der Nähe seines Landhauses in Arpinum (Art Gallery of South Australia, Adelaide)

Stefan Sagmeister (Bildnachweis: Martin Kraft)