Henry Purcell, Edvard Munch und Ingeborg Bachmann

Einer der Themenbereiche, mit denen sich die Schülerinnen und Schüler in der 7. bzw. 8. Klasse Gymnasium im Lateinunterricht beschäftigen, ist das Unterrichtsmodul „Rezeption“ – in Sprache, Literatur und in verschiedenen Genres der Kunst. Das bedeutet im Konkreten, dass man Linien und Entwicklungen in der europäischen Kulturgeschichte aus der Antike bis in unsere Zeit herauf entdeckt, vergleicht und interpretiert. Als einen unserer Ausgangspunkte wählten wir die „Äneis“, Vergils großes Epos, das im ersten Jahrzehnt der Herrschaft des Kaisers Augustus ca. 20, 30 Jahre vor Christi Geburt entstand. Die maßgebliche Person am sagenhaften Beginn der römischen Geschichte war Äneas, ein Kriegsflüchtling aus Troja in Kleinasien. Karthago, Roms spätere Rivalin um die Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer, wo Äneas auf seiner Flucht Station machte, war von einer Frau gegründet worden, die aus Phönizien, dem heutigen Libanon, geflüchtet war: Dido.

Wir lasen, übersetzten und interpretierten Textpartien über den Fall der Stadt Troja und kamen auf das Schicksal Kassandras zu sprechen, der Seherin, die ein bevorstehendes Unglück voraussah, der aber niemand glaubte – und stellten Vergleiche an mit dem gleichnamigen Roman von Christa Wolf (1929-2011), der wohl wichtigsten Autorin der damaligen DDR. Troja wurde von den griechischen Soldaten mittels einer List erobert: mit dem Trojanischen Pferd, das sprichwörtlich geworden ist und das auch in der politischen Karikatur eine bedeutende Rolle spielt. Wir wählten dazu ein Beispiel aus dem Jahr 2018 von Michael Pammesberger, dem bekannten Karikaturisten des „Kurier“, der übrigens an unserer Schule maturiert hat. Als Vorgeschmack auf die geplante Romreise betrachteten wir die berühmte Laokoongruppe (Laokoon hatte die Trojaner vor dem Pferd gewarnt, wurde aber zusammen mit seinen Söhnen von Schlangen getötet), anhand deren Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) Gedanken darüber anstellt, inwiefern Schmerz in der bildenden Kunst dargestellt werden kann. Diese Frage diskutierten die Schülerinnen und Schüler bei der gemeinsamen Betrachtung des berühmten Bildes „Der Schrei“ von Edvard Munch (1863-1944).

Eine der berühmtesten Allegorien in der „Äneis“ ist Fama, das personifizierte Gerücht: Vergil stellt poetisch dar, wie es entsteht und wie es sich verbreitet, wie es wahre Elemente genauso beinhaltet wie falsche Informationen, die auch gezielt kommuniziert werden – er thematisierte quasi schon damals „Fake News“. Beeindruckend die Darstellung der „Fama“ in A. Paul Weebers Graphik „Das Gerücht“ aus dem Jahr 1953.

Das Zusammentreffen von Äneas und Dido entwickelt sich zur tragischen Liebesgeschichte. Sie spricht schon von Ehe, er aber sieht sich vom schicksalshaften Auftrag der Suche nach einer neuen Heimat in Italien dazu veranlasst, Dido über Nacht zu verlassen. Oder ist er doch nur ein weiteres Beispiel eines Mannes, der nicht fähig zu einer Bindung ist und deshalb treulos wird? Das Schicksal der beiden gestaltet mit wunderschöner Musik der englische Barockkomponist Henry Purcell (1659-1695) – auch aus dieser Oper hörten wir Teile.

In ihrer Verzweiflung tötet sich die verlassene Dido selbst. Äneas erblickt vom auslaufenden Schiff die Flammen des Scheiterhaufens und ahnt das tragische Ende der Königin. Diese Szene inspiriert den Linzer Schriftsteller Kurt Klinger (1928-2003) zum Gedicht „Einäscherung der Poetessa“, das er anlässlich des tragischen Todes der großen österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann (1926-1973) geschrieben hat. Am Tag nach der Verleihung des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preises lauschten wir im Lateinunterricht der Stimme der Lyrikerin, die ihr Gedicht „Die gestundete Zeit“ vorträgt. Wir interpretierten gemeinsam den Text, entdeckten mithilfe unserer anhand von Ovid und Catull erworbenen Kenntnisse poetische und rhetorische Stilmittel und räsonierten gemeinsam über Zeit, Vergänglichkeit, Macht und Ohnmacht des einzelnen – immer wiederkehrende große Fragen, die die Dichtkunst aufwirft und an uns stellt.

Auf der Romreise in der 8. Klasse wollen wir in der Via Giulia Ingeborg Bachmanns gedenken, dort, wo sie gewohnt hat und wo der tragische Brandunfall passiert ist, der zu ihrem Tod geführt hat. In Rom hat sie lange gelebt. Rom war die Stadt ihrer Sehnsucht.

Im Lateinunterricht gibt es beständig Anlässe, sich mit den Facetten europäischer Geisteswelt, Politik, Kunst und Kultur zu beschäftigen. Er fördert das Knüpfen von Verbindungen, zeigt Entwicklungslinien, bietet Anlässe, Parallelen zu ziehen, fordert auf, persönlich Stellung zu nehmen und weist hin auf wichtige Werke von Künstlerinnen und Künstlern sowie Fragestellungen bedeutender Intellektueller. 

Wolfgang Leberbauer

Henry Purcell, Dido and Aeneas (http://www.omm.de/veranstaltungen/musiktheater20162017/LIE-dido-and-aeneas.html)

Der englische Barockkomponist Henry Purcell (http://classicalfm.ca/)

Edvard Munch, der Schrei (https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Schrei)

Ingeborg Bachmann (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/gespraech-zu-ingeborg-bachmann-das-tut-mir-heute-noch-weh-16628970.htm)